So hätte es sein können, Anthony

Im Juli 2005 wird Anthony Walker bei einem rassistischen Angriff in einem Park in Liverpool ermordet. Er ist gerade 18. Inspiriert durch Gespräche mit Gee Walker, Anthonys Mutter, über den Jungen, der Anthony war, und den Mann, der er werden sollte, erzählt das BBC-Drama Anthony“ die Geschichte des Lebens, das er hätte leben können. Der Story-Clou dabei: Anthonys imaginiertes Leben wird in umgekehrter Chronologie erzählt. Wir treffen ihn, als er 25 ist, und arbeiten uns von dort rückwärts vor. Wir sehen, wie er seine Träume verwirklicht und das Leben genießt, bis zum Augenblick, als die Fiktion endet und die biografische Wahrheit uns voll trifft: Zwei von Hass besoffene Männer verfolgen ihn von einer Bushaltestelle aus in einen Park und erschlagen ihn dort mit einem Eispickel.
Jimmy McGovern, Autor von „Anthony“, erzählt, wie er auf die Idee kam:
„I’d been thinking about the First World War, about how the powers-that-be kept everybody fighting right up to the eleventh hour of the eleventh day of the eleventh month. Even though everyone knew the war was over they kept on fighting and between dawn and eleven o’clock on the eleventh day, thousands died. I would argue that every single death in the First World War was pointless but those that occurred on that final day were the most pointless of all.
I kept asking myself, “How many of those men who died that day would have achieved great things had they lived? Discovered a cure for a virus perhaps, written a great book, painted a beautiful picture?” That got me thinking about Anthony’s hopes and dreams. Had he lived, would he have achieved them? That question lies at the very heart of this drama.“
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Schmeichler, Schwätzer, Freund des Pöbels

Vom griechischen Denker, Botaniker und Aristoteles-Schüler Theophrast ist nur ein Werk vollständig überliefert, die „Charaktere“. In prägnanten Skizzen typologisiert er dreißig männliche Charaktere, darunter den Gerüchtemacher, den Schmeichler, den Schwafler, den Schwätzer, den Knickrigen, den Oligarchen und den unzeitgemäßen Mann. Die Schrift war in der Antike so beliebt, daß man sie als das „Goldene Büchlein“ bezeichnete. Auch interessant für ambitionierte Storyteller von heute. theparisreview.org

Cancel Culture, hä?

Cancel Culture zerstört den Liberalismus. Nee, Cancel Culture gibt es gar nicht. Oh doch, sie hat schon immer existiert; haben nicht schon Brutus und Cassius Julius Cäsar einfach gecancelt? Ja, sie existiert, aber es sind nur ein paar reiche Promis, die sich darüber beschweren, dass die Leute ihnen endlich auf Twitter antworten können. Nein, so was existiert nicht, außer wenn es gut ist und die Gecancelten es verdient haben. Ein kompliziertes Phänomen also, das hier elegant auf zehn pauschale Behauptungen zusammendampft wurde. Via NYT

Tage des Übens

Peter Sloterdijk sagt: Der Mensch ist das Wesen, das auf sich selber einwirkt, an sich selber arbeitet, an sich selber Exempel statuiert; das sich in Askesen und Übungen selbst erschafft, formt, steigert. Die Geigerin Hillary Hahn ist ein ganz besonderes Übewesen. 2017 veröffentlichte sie ein Instagram-Video mit der Überschrift „#100daysofpractice“. Die Idee: Hundert Tage lang würde sie täglich ein Video von sich selbst beim Üben einstellen und anderen Musikern zeigen, wie sie sich auf Auftritte vorbereitet. An einem Tag spielte Hahn eine Reihe langsamer, präziser Doppelgriffe aus Robert Schumanns Klavierquartett, an einem anderen Tag die eher athletischen Parts aus Felix Mendelssohns Violinkonzert. Der hashtag löste eine Art Revolution aus: Innerhalb von drei Jahren entstanden Tausende von Instagram-Praxisberichten, in denen Musiker – von hochkarätigen Profis bis hin zu Mittelschülern – täglich Clips von sich selbst beim Üben veröffentlichen.
Eine neue Möglichkeit für Musiker, sich selbst über konsistentes, produktives Üben Rechenschaft abzulegen und Feedback von anderen Musikern zu erhalten. Das Üben, für Musiker traditionell eine total einsame Angelegenheit (einzige Gesellschaft: Metronom und Stimmgerät), ist nun zu einer eigenen Art der Aufführung und des Feedbackfestivals geworden. Via The New Yorker

Einschränkungen als Kreativitätstreiber

In Zeiten der multiplen Restriktionen lohnt sich Lars von Triers „The Five Obstructions“ ganz besonders. Kurz zum Hintergrund: 1967 hatte Jørgen Leth den Kurzfilm Der perfekte Mensch produziert – einen Essay über die Konstruktion des modernen Funktions- und Konsummenschen. Ein elegantes, zwölfminütiges Meisterwerk. von Trier verehrt diesen Film und seinen Macher. Er überredet Leth nun, fünf Remakes davon zu produzieren – nach Regeln, die er, von Trier, mit perfider Freude am Dogma aufstellt. Jede dieser Regeln beinhaltet konzeptionelle und formale Erschwernisse, die Leth kreativ überwinden muss. Mal muss Leth den Film in Kuba neu drehen, ohne Set und mit der Auflage, dass keine Aufnahme länger als zwölf Bilder dauern darf; mal muss er den Film am schlimmsten Ort der Welt (Bombay) neu drehen, darf diesen Ort aber nicht auf der Leinwand zeigen; mal muss er sein Original zum Zeichentrickfilm machen (Leth hasst Zeichentrickfilme). Ist ein Film fertig, treffen sich die beiden Regisseure, schauen sich das Werk bei Wodka und Kaviarschnittchen gemeinsam an – und von Trier bewertet die Remakeaufgabe als bestanden; oder nicht bestanden. Glasklar wird: Die auferlegten Hemmnisse wirken auf Leth gar nicht einengend, im Gegenteil: Sie feuern seine Imagination und handwerkliche Brillanz an bzw. setzen sie frei. Es entstehen Remakes als komplett originelle, neue Werke. Folgen wir von Trier und Leth (zumindest hierin): Reagieren wir auch auf die krassesten Zumutungen interessiert, wach und mit hintervotziger Gelassenheit.

Filtern und filtern lassen

Zu viel Auswahl kann einen starr, doof und unglücklich machen. Oder wahnsinnig. Siehe Netflix, Amazon Video, Sky und dergleichen. Der Filmdienst Mubi setzt dagegen auf Qualität durch humane Selektionskompetenz. Denn Mubi hat immer nur 30 Filme im Angebot. Jeden Tag kommt ein neuer hinzu, der älteste Film wird entfernt. Das darf man an sich schon eine spezielle, nischige Idee nennen. Aber es wird noch spezieller. Ausgewählt werden die Filme – Arthouse-Klassiker, Kultiges auch mal aus Argentinien oder Südkorea, Cannes- und Locarno-Kracher, Neulandperlen – von einer Redaktion echter, cinegeiler Menschen. Algorithmus ist ja sonst schon überall.

Covidiot*in!

Via urbandictionary: Covid-19 verändert auch unsere Sprache. Ein Covidiot/eine Covidiotin ist zum Beispiel eine Person, die während der Covid-19-Pandemie gesunden Menschenverstand, Anstand, Wissenschaft und professionellen Rat ignoriert.

Arthur spielt mit seinem Leben

Via The Paris Review: „Arthur Cravan’s real name was Fabian Avenarius Lloyd; he adopted myriad pseudonyms and aliases during his short life. He was born in Switzerland, in 1887, to Irish and British parents with whom he had a tumultuous relationship, though he was immensely proud that his aunt Constance was Oscar Wilde’s wife. In his early teens, Cravan came to regard the familial link to the world’s most disreputable genius as proof that he was destined for a life of fabulous infamy.“

Das iPhone ein Bauhaus-Maschinchen?

Ist das iPhone ein Kunstwerk? Nicholas Fox Weber sagt: ja. Es sei die Verkörperung von Bauhausidealen. Via The New Republic: „The Bauhaus, open for less than a decade and a half, was one of those rare influential failures. It was like the Velvet Underground, the band that inspired all of its fans to start bands of their own. The art historian Nicholas Fox Weber—the author of The Bauhaus Group: Six Masters of Modernism and the executive director of the Josef and Anni Albers Foundation—goes even further. The title for his new book, iBauhaus: The iPhone as the Embodiment of Bauhaus Ideals and Design, gives away its conceit, suggesting that it’s time we looked more closely at those machines we carry around all day.“