Tage des Übens

Peter Sloterdijk sagt: Der Mensch ist das Wesen, das auf sich selber einwirkt, an sich selber arbeitet, an sich selber Exempel statuiert; das sich in Askesen und Übungen selbst erschafft, formt, steigert. Die Geigerin Hillary Hahn ist ein ganz besonderes Übewesen. 2017 veröffentlichte sie ein Instagram-Video mit der Überschrift „#100daysofpractice“. Die Idee: Hundert Tage lang würde sie täglich ein Video von sich selbst beim Üben einstellen und anderen Musikern zeigen, wie sie sich auf Auftritte vorbereitet. An einem Tag spielte Hahn eine Reihe langsamer, präziser Doppelgriffe aus Robert Schumanns Klavierquartett, an einem anderen Tag die eher athletischen Parts aus Felix Mendelssohns Violinkonzert. Der hashtag löste eine Art Revolution aus: Innerhalb von drei Jahren entstanden Tausende von Instagram-Praxisberichten, in denen Musiker – von hochkarätigen Profis bis hin zu Mittelschülern – täglich Clips von sich selbst beim Üben veröffentlichen.
Eine neue Möglichkeit für Musiker, sich selbst über konsistentes, produktives Üben Rechenschaft abzulegen und Feedback von anderen Musikern zu erhalten. Das Üben, für Musiker traditionell eine total einsame Angelegenheit (einzige Gesellschaft: Metronom und Stimmgerät), ist nun zu einer eigenen Art der Aufführung und des Feedbackfestivals geworden. Via The New Yorker

Einschränkungen als Kreativitätstreiber

In Zeiten der multiplen Restriktionen lohnt sich Lars von Triers „The Five Obstructions“ ganz besonders. Kurz zum Hintergrund: 1967 hatte Jørgen Leth den Kurzfilm Der perfekte Mensch produziert – einen Essay über die Konstruktion des modernen Funktions- und Konsummenschen. Ein elegantes, zwölfminütiges Meisterwerk. von Trier verehrt diesen Film und seinen Macher. Er überredet Leth nun, fünf Remakes davon zu produzieren – nach Regeln, die er, von Trier, mit perfider Freude am Dogma aufstellt. Jede dieser Regeln beinhaltet konzeptionelle und formale Erschwernisse, die Leth kreativ überwinden muss. Mal muss Leth den Film in Kuba neu drehen, ohne Set und mit der Auflage, dass keine Aufnahme länger als zwölf Bilder dauern darf; mal muss er den Film am schlimmsten Ort der Welt (Bombay) neu drehen, darf diesen Ort aber nicht auf der Leinwand zeigen; mal muss er sein Original zum Zeichentrickfilm machen (Leth hasst Zeichentrickfilme). Ist ein Film fertig, treffen sich die beiden Regisseure, schauen sich das Werk bei Wodka und Kaviarschnittchen gemeinsam an – und von Trier bewertet die Remakeaufgabe als bestanden; oder nicht bestanden. Glasklar wird: Die auferlegten Hemmnisse wirken auf Leth gar nicht einengend, im Gegenteil: Sie feuern seine Imagination und handwerkliche Brillanz an bzw. setzen sie frei. Es entstehen Remakes als komplett originelle, neue Werke. Folgen wir von Trier und Leth (zumindest hierin): Reagieren wir auch auf die krassesten Zumutungen interessiert, wach und mit hintervotziger Gelassenheit.

Filtern und filtern lassen

Zu viel Auswahl kann einen starr, doof und unglücklich machen. Oder wahnsinnig. Siehe Netflix, Amazon Video, Sky und dergleichen. Der Filmdienst Mubi setzt dagegen auf Qualität durch humane Selektionskompetenz. Denn Mubi hat immer nur 30 Filme im Angebot. Jeden Tag kommt ein neuer hinzu, der älteste Film wird entfernt. Das darf man an sich schon eine spezielle, nischige Idee nennen. Aber es wird noch spezieller. Ausgewählt werden die Filme – Arthouse-Klassiker, Kultiges auch mal aus Argentinien oder Südkorea, Cannes- und Locarno-Kracher, Neulandperlen – von einer Redaktion echter, cinegeiler Menschen. Algorithmus ist ja sonst schon überall.

Covidiot*in!

Via urbandictionary: Covid-19 verändert auch unsere Sprache. Ein Covidiot/eine Covidiotin ist zum Beispiel eine Person, die während der Covid-19-Pandemie gesunden Menschenverstand, Anstand, Wissenschaft und professionellen Rat ignoriert.

Arthur spielt mit seinem Leben

Via The Paris Review: „Arthur Cravan’s real name was Fabian Avenarius Lloyd; he adopted myriad pseudonyms and aliases during his short life. He was born in Switzerland, in 1887, to Irish and British parents with whom he had a tumultuous relationship, though he was immensely proud that his aunt Constance was Oscar Wilde’s wife. In his early teens, Cravan came to regard the familial link to the world’s most disreputable genius as proof that he was destined for a life of fabulous infamy.“

Das iPhone ein Bauhaus-Maschinchen?

Ist das iPhone ein Kunstwerk? Nicholas Fox Weber sagt: ja. Es sei die Verkörperung von Bauhausidealen. Via The New Republic: „The Bauhaus, open for less than a decade and a half, was one of those rare influential failures. It was like the Velvet Underground, the band that inspired all of its fans to start bands of their own. The art historian Nicholas Fox Weber—the author of The Bauhaus Group: Six Masters of Modernism and the executive director of the Josef and Anni Albers Foundation—goes even further. The title for his new book, iBauhaus: The iPhone as the Embodiment of Bauhaus Ideals and Design, gives away its conceit, suggesting that it’s time we looked more closely at those machines we carry around all day.“

Aus der Reihe „Phantastische Krankheiten“: Newyorkitis

Via laphamsquarterly: „New York was a place of substantial flux and chaos when Newyorkitis was first published. Between 1870 and 1900 over twelve million immigrants arrived in the United States, and more than 70 percent of them entered the country through Manhattan, which became known as “the Golden Door.” This continuous stream of people meant more noise, more traffic jams, more pollution, and more sanitation problems. At the same time innovations and expansions in steamship and railroad infrastructure increased trade in the region; almost 70 percent of all U.S. imports entered via Manhattan by 1884. Technological inventions such as electric lights and wireless radio changed the pace of society and the length of time people could spend working. New York became known as the capital of commerce, opportunity, modernity—but also the epitome of the fast life in a way that both excited and frightened people, whether they lived in the city or watched it from afar. And it was this buzz, this extreme growth and new style of living, that invited questioning and analysis; it provided an opportunity for ideas like those in Girdner’s Newyorkitis to catch on and spread like a disease.“

Ins Blaue bauen

Getrieben von Verzweiflung über die Barbarei des ersten Weltkriegs und befeuert von den alternativen Lebensentwür- fen der Reformer und Anarchisten, schreibt Ernst Bloch 1918 den „Geist der Utopie“. Ein philosophisches Manifest gegen die Leere, Ungläubigkeit und Hohlheit der Zeit. Für ein neues, reiches, volles (auch gläubiges) Leben.  Mit Utopie ist hier ausnahmsweise nicht die detailliert ausgeschmückte Ausmalung eines Idealstaats gemeint, sondern eine Idee: etwas Geistiges, Metaphysisches, das allen Indivi- duen innewohnt und jetzt endlich aktiviert werden muss. „Das Rechte zu finden, um dessetwillen es sich zu leben ziemt. (…) Dazu bauen wir ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche (…).“ Ernst Bloch beschreibt den Menschen als ein radikal zur Utopie, zum guten Leben und Zusammenleben begabtes Wesen. Im Prinzip geht es ihm um: Hoffnung. 

Licht an!

Voraussichtlich noch mindestens bis August in Bremen: die große Norbert-Schwontkowski-Ausstellung. Braunschwarzgrauschlammig, still und ziemlich leer ist seine Welt, und orientierungs-, aber nicht hoffnungs- und schon gar nicht freudlos wirken die Menschen darin. Wovon schon die Bildtitel zeugen: Dicht am Boden. Zahl. Goodyear. Belgische Autobahn. Nachdenken über Nichts. Und: Licht an!
Selbstauskunft Schwontkowski (1949-2013): „Die große Kraft, die mich bewegt, ist die Poesie.“ Und: „Ich nehme mir die Freiheit, (…) Unsinn zu produzieren.“ Und: „Ich will Räume zum Glühen bringen.“
Mehr Schlamm, Leere, Glühen und sophisticated fun hier: kunsthalle-bremen.de