Aus der Reihe „Phantastische Krankheiten“: Newyorkitis

Via laphamsquarterly: „New York was a place of substantial flux and chaos when Newyorkitis was first published. Between 1870 and 1900 over twelve million immigrants arrived in the United States, and more than 70 percent of them entered the country through Manhattan, which became known as “the Golden Door.” This continuous stream of people meant more noise, more traffic jams, more pollution, and more sanitation problems. At the same time innovations and expansions in steamship and railroad infrastructure increased trade in the region; almost 70 percent of all U.S. imports entered via Manhattan by 1884. Technological inventions such as electric lights and wireless radio changed the pace of society and the length of time people could spend working. New York became known as the capital of commerce, opportunity, modernity—but also the epitome of the fast life in a way that both excited and frightened people, whether they lived in the city or watched it from afar. And it was this buzz, this extreme growth and new style of living, that invited questioning and analysis; it provided an opportunity for ideas like those in Girdner’s Newyorkitis to catch on and spread like a disease.“

Ins Blaue bauen

Getrieben von Verzweiflung über die Barbarei des ersten Weltkriegs und befeuert von den alternativen Lebensentwür- fen der Reformer und Anarchisten, schreibt Ernst Bloch 1918 den „Geist der Utopie“. Ein philosophisches Manifest gegen die Leere, Ungläubigkeit und Hohlheit der Zeit. Für ein neues, reiches, volles (auch gläubiges) Leben.  Mit Utopie ist hier ausnahmsweise nicht die detailliert ausgeschmückte Ausmalung eines Idealstaats gemeint, sondern eine Idee: etwas Geistiges, Metaphysisches, das allen Indivi- duen innewohnt und jetzt endlich aktiviert werden muss. „Das Rechte zu finden, um dessetwillen es sich zu leben ziemt. (…) Dazu bauen wir ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche (…).“ Ernst Bloch beschreibt den Menschen als ein radikal zur Utopie, zum guten Leben und Zusammenleben begabtes Wesen. Im Prinzip geht es ihm um: Hoffnung. 

Licht an!

Voraussichtlich noch mindestens bis August in Bremen: die große Norbert-Schwontkowski-Ausstellung. Braunschwarzgrauschlammig, still und ziemlich leer ist seine Welt, und orientierungs-, aber nicht hoffnungs- und schon gar nicht freudlos wirken die Menschen darin. Wovon schon die Bildtitel zeugen: Dicht am Boden. Zahl. Goodyear. Belgische Autobahn. Nachdenken über Nichts. Und: Licht an!
Selbstauskunft Schwontkowski (1949-2013): „Die große Kraft, die mich bewegt, ist die Poesie.“ Und: „Ich nehme mir die Freiheit, (…) Unsinn zu produzieren.“ Und: „Ich will Räume zum Glühen bringen.“
Mehr Schlamm, Leere, Glühen und sophisticated fun hier: kunsthalle-bremen.de

Beauty and Truth!

Via NYT: Lunch With Freeman Dyson, in 196,883 Dimensions: „Another day, jumping off the question of truth versus beauty in science, he mentioned an essay he had just finished on a related dichotomy, “Is Science Mostly Driven by Ideas or by Tools?” The essay, published in 2012, marked the 50th anniversary of “The Structure of Scientific Revolutions,” by the theoretical physicist and historian Thomas Kuhn. Dr. Kuhn’s favorite word, Dr. Dyson reckoned, was “paradigm,” a system of ideas that dominate a scientific era. “A scientific revolution is a discontinuous shift from one paradigm to another,” he added. “The shift happens suddenly because new ideas explode with a barrage of new insights and new questions that push old ideas into oblivion.” As a counterpoint, Dr. Dyson mentioned Peter Galison, a physicist and historian at Harvard, whose work focused more on experiments and instruments. Dr. Galison had published “a fatter but equally illuminating book” called “Image and Logic” — a history dominated by tools, whereas Kuhn’s was a history dominated by ideas.„Roughly speaking, Kuhn stands for beauty and Galison for truth,” Dr. Dyson said. „My answer is that we need them both.““

Hallo, alter ego

Alter Ego bezeichnet eine Person, die zwei verschiedene Leben lebt. So wie Mr. Hyde und Superman. 1981 erfindet sich der Fotoingenieur, Kunsthistoriker und Sammler Ulrich Tillmann sein alter Kunstego Klaus Peter Schnüttger-Webs als einen verträumten Weltverbesserer, dessen Interessen von Bauhaus bis Zen-Buddhismus, von Morphologie bis Entomologie reichen. Und nicht nur das, Tillmann gründet zusammen mit den Künstlerkollleginnen Bettina Gruber und Maria Vedder auch direkt das Klaus-Peter-Schnüttger-Webs-Museum dazu, ein fiktives, dem Werk des Fake-Universalgenies gewidmetes Anti-Museum. Ein begeh- und beschnupperbares Archiv, randvoll mit Fundstücken vom Flohmarkt wie mit höherwertigen Objekten aus der Frühzeit der Fotografie. Jetzt zu erkunden im Raum 18 des von Peter Zumthor architektonisch erneuerten, ganz unkölschen Museums Kolumba in Köln.

Nie gekannte Zärtlichkeit ist erwacht

Rocko Schamoni hat auf seinem jüngsten Meisterwerk „Musik für Jugendliche“ einen Song des italienischen Singer-Songwriters Lucio Battisti von 1973 wie soll man sagen: gecovert. Der Text liegt im Original schon so exakt schamonihaft daneben, dass er ihn nicht selbst erfinden musste. Ein Auszug:

Unser freies Lied

Neue Impressionen
neue Emotionen
nie gekannte Zärtlichkeit ist erwacht
wir hören nicht, was manche Leute sagen
wir sagen nichts, wenn manche Leute fragen
wir gehen einen anderen Weg – den Weg unsrer Liebe.

Hier in dieser Welt
die gefangen ist
singen wir ein freies Lied du und ich
eine wahre Liebe
fern von jeder Lüge
ein Symbol der Ehrlichkeit dein Gesicht.

Geliebtes Mädchen
du weißt nicht, wohin du gehen willst
doch wohin auch immer – ich werde mit dir gehen – wenn du es willst.

Quite interesting

Q“ ist ein BBC-Quiz wie kein anderes. Das Konzept der Sendung: „Whatever is interesting we are interested in. Whatever is not interesting, we are even more interested in.“ QI hat einen Quizmaster, vier Kandidaten, und es geht um Punkte. Die gibt es aber nur für Antworten, die „quite interesting“ oder besonders „funny“ sind; ob sie richtig, wahr oder relevant sind, interessiert nicht. Punktabzug gibt es für Antworten, die allzu obvious sind (-„Which is the fifth popular german baby boy name?“ -„Adolf.“). Quite funny: Wann immer eine allzu offensichtliche Antwort geäußert wird, ertönt eine Art Atomalarmsignal, das den Antwortgeber als berechenbar brandmarkt und ihn unmissverständlich auffordert, beim nächsten Mal endlich etwas wirklich Originelles zu erzählen. Das Programm besticht durch super schlagfertige Gäste und einen Gastgeber, dessen eigentliche Aufgabe lautet: Rege die Gäste höflich dazu an, intellectual suicide zu begehen, indem sie sich und ihre Phantasie total gehen lassen; und produktiv mit ihrem Nicht-Wissen, mit ihren mentalen Qualitäten und persönlichen Bescheuertheiten umgehen. QI ist ein 26-Jahr-Projekt. 2003 startete die Show mit Fragen rund um den Buchstaben A (Adam, Astronomie, Ameisenbären, Äpfel, Afrika, Atome, Anchovies, Antilopen, Aserbeidschan) und kämpft sich seitdem alphabetisch vor. Gerade läuft die Staffel zum Buchstaben Q.

Sehr geehrte Leser

Arno Schmidt ist der, der (vor allem) das zementschwere, riesengroße, 1.000 Seiten starke Buch Zettels Traum geschrieben hat. Ganz kurz, aber nicht weniger groß sind seine fiktiven Briefe. Zum Beispiel der lakonisch-vernichtende an Klopstock, den Dichter der Empfindsamkeit und des Heldenepos Messias:

S.H. Herrn
F.G. Klopstock, Superintendent Schulpforta
bei Naumberg/Saale

Sehr geehrter Herr!
Anbei den Messias zurück.

Ihr Arno Schmidt

Analoger Link

Im tagebuchartigen „Tage und Zeilen 2“ von Peter Sloterdijk finden sich mehrere überschwängliche Hinweise auf Essays von Malcolm Gladwell, z.B.:  „Mittags wieder im Sea Palace, allein. Diesmal mit Malcolm Gladwells Essay Something Borrowed, ebenfalls aus dem Jahr 2004, erschienen im New Yorker. Das wird vermutlich auf lange Zeit das Klügste darstellen, was man zu den Themen Plagiat und geistiges Eigentum lesen kann, geschrieben von einem beiläufig Bestohlenen, der sich aus gegebenem Anlass klarmachte, was für eine Ehre es bedeuten kann, wenn ein paar Sätze aus der eigenen Feder im Kunstwerk eines anderen wiederkehren.“ Alle Gladwell-Essays – inkl. Something Borrowed – findet man im 2010 erschienenen Buch What the dog saw“ . Gern geschehen.

Angst vor nice

Zu Werner Büttners Prinzipien als Maler gehören geistige Überfallgeschwindigkeit, revolutionäre Schnöseligkeit und Polyfokalität („Bilder müssen mehrere Einflugschneisen haben“). Zu Werner Büttners Prinzipien als Hochschullehrer für Malerei gehört die Vernalisation, eine Methode, die er der Botanik entnommen und kunstpädagogisch fruchtbar gemacht hat: „Entwicklungsbeschleunigung bei Keimlingen durch Kälteschockbehandlung“. Das heißt: nicht zu nett sein zu Zöglingen.