Mentalgymnastische Übungen

„How to Think Like Shakespeare“ presents the early modern grammar school as a pedagogical environment characterized by active, rather than passive, learning. Newstok invokes one of the period’s key instructional texts, Richard Rainolde’s The Foundacion of Rhetorike (1563), which derived from the ancient Greek rhetorician Aphthonius’s Progymnasmata. The etymology of this word — from the Greek for “preparatory exercises” — gives the sense of its instructional method, what Newstok calls “a regimen of mental gymnastics.” In his account, an early modern education based on these sorts of manuals gave students “practice in curiosity, intellectual agility, the determination to analyze, commitment to resourceful communication, historically and culturally situated reflectiveness, the confidence to embrace complexity.” To some degree, Newstok paints a picture of a culture that allowed learning for learning’s sake; yet the goal of these kinds of exercises was the development of linguistic skill that would, ultimately, be useful in any future vocation. “This was verbal training for careers,” Newstok tells us, “whether in the church, the court, or the market.” Via LARB

Schmeichler, Schwätzer, Freund des Pöbels

Vom griechischen Denker, Botaniker und Aristoteles-Schüler Theophrast ist nur ein Werk vollständig überliefert, die „Charaktere“. In prägnanten Skizzen typologisiert er dreißig männliche Charaktere, darunter den Gerüchtemacher, den Schmeichler, den Schwafler, den Schwätzer, den Knickrigen, den Oligarchen und den unzeitgemäßen Mann. Die Schrift war in der Antike so beliebt, daß man sie als das „Goldene Büchlein“ bezeichnete. Auch interessant für ambitionierte Storyteller von heute. theparisreview.org

Tage des Übens

Peter Sloterdijk sagt: Der Mensch ist das Wesen, das auf sich selber einwirkt, an sich selber arbeitet, an sich selber Exempel statuiert; das sich in Askesen und Übungen selbst erschafft, formt, steigert. Die Geigerin Hillary Hahn ist ein ganz besonderes Übewesen. 2017 veröffentlichte sie ein Instagram-Video mit der Überschrift „#100daysofpractice“. Die Idee: Hundert Tage lang würde sie täglich ein Video von sich selbst beim Üben einstellen und anderen Musikern zeigen, wie sie sich auf Auftritte vorbereitet. An einem Tag spielte Hahn eine Reihe langsamer, präziser Doppelgriffe aus Robert Schumanns Klavierquartett, an einem anderen Tag die eher athletischen Parts aus Felix Mendelssohns Violinkonzert. Der hashtag löste eine Art Revolution aus: Innerhalb von drei Jahren entstanden Tausende von Instagram-Praxisberichten, in denen Musiker – von hochkarätigen Profis bis hin zu Mittelschülern – täglich Clips von sich selbst beim Üben veröffentlichen.
Eine neue Möglichkeit für Musiker, sich selbst über konsistentes, produktives Üben Rechenschaft abzulegen und Feedback von anderen Musikern zu erhalten. Das Üben, für Musiker traditionell eine total einsame Angelegenheit (einzige Gesellschaft: Metronom und Stimmgerät), ist nun zu einer eigenen Art der Aufführung und des Feedbackfestivals geworden. Via The New Yorker

Einschränkungen als Kreativitätstreiber

In Zeiten der multiplen Restriktionen lohnt sich Lars von Triers „The Five Obstructions“ ganz besonders. Kurz zum Hintergrund: 1967 hatte Jørgen Leth den Kurzfilm Der perfekte Mensch produziert – einen Essay über die Konstruktion des modernen Funktions- und Konsummenschen. Ein elegantes, zwölfminütiges Meisterwerk. von Trier verehrt diesen Film und seinen Macher. Er überredet Leth nun, fünf Remakes davon zu produzieren – nach Regeln, die er, von Trier, mit perfider Freude am Dogma aufstellt. Jede dieser Regeln beinhaltet konzeptionelle und formale Erschwernisse, die Leth kreativ überwinden muss. Mal muss Leth den Film in Kuba neu drehen, ohne Set und mit der Auflage, dass keine Aufnahme länger als zwölf Bilder dauern darf; mal muss er den Film am schlimmsten Ort der Welt (Bombay) neu drehen, darf diesen Ort aber nicht auf der Leinwand zeigen; mal muss er sein Original zum Zeichentrickfilm machen (Leth hasst Zeichentrickfilme). Ist ein Film fertig, treffen sich die beiden Regisseure, schauen sich das Werk bei Wodka und Kaviarschnittchen gemeinsam an – und von Trier bewertet die Remakeaufgabe als bestanden; oder nicht bestanden. Glasklar wird: Die auferlegten Hemmnisse wirken auf Leth gar nicht einengend, im Gegenteil: Sie feuern seine Imagination und handwerkliche Brillanz an bzw. setzen sie frei. Es entstehen Remakes als komplett originelle, neue Werke. Folgen wir von Trier und Leth (zumindest hierin): Reagieren wir auch auf die krassesten Zumutungen interessiert, wach und mit hintervotziger Gelassenheit.

Arthur spielt mit seinem Leben

Via The Paris Review: „Arthur Cravan’s real name was Fabian Avenarius Lloyd; he adopted myriad pseudonyms and aliases during his short life. He was born in Switzerland, in 1887, to Irish and British parents with whom he had a tumultuous relationship, though he was immensely proud that his aunt Constance was Oscar Wilde’s wife. In his early teens, Cravan came to regard the familial link to the world’s most disreputable genius as proof that he was destined for a life of fabulous infamy.“

Ins Blaue bauen

Getrieben von Verzweiflung über die Barbarei des ersten Weltkriegs und befeuert von den alternativen Lebensentwür- fen der Reformer und Anarchisten, schreibt Ernst Bloch 1918 den „Geist der Utopie“. Ein philosophisches Manifest gegen die Leere, Ungläubigkeit und Hohlheit der Zeit. Für ein neues, reiches, volles (auch gläubiges) Leben.  Mit Utopie ist hier ausnahmsweise nicht die detailliert ausgeschmückte Ausmalung eines Idealstaats gemeint, sondern eine Idee: etwas Geistiges, Metaphysisches, das allen Indivi- duen innewohnt und jetzt endlich aktiviert werden muss. „Das Rechte zu finden, um dessetwillen es sich zu leben ziemt. (…) Dazu bauen wir ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche (…).“ Ernst Bloch beschreibt den Menschen als ein radikal zur Utopie, zum guten Leben und Zusammenleben begabtes Wesen. Im Prinzip geht es ihm um: Hoffnung. 

Licht an!

Voraussichtlich noch mindestens bis August in Bremen: die große Norbert-Schwontkowski-Ausstellung. Braunschwarzgrauschlammig, still und ziemlich leer ist seine Welt, und orientierungs-, aber nicht hoffnungs- und schon gar nicht freudlos wirken die Menschen darin. Wovon schon die Bildtitel zeugen: Dicht am Boden. Zahl. Goodyear. Belgische Autobahn. Nachdenken über Nichts. Und: Licht an!
Selbstauskunft Schwontkowski (1949-2013): „Die große Kraft, die mich bewegt, ist die Poesie.“ Und: „Ich nehme mir die Freiheit, (…) Unsinn zu produzieren.“ Und: „Ich will Räume zum Glühen bringen.“
Mehr Schlamm, Leere, Glühen und sophisticated fun hier: kunsthalle-bremen.de

Beauty and Truth!

Via NYT: Lunch With Freeman Dyson, in 196,883 Dimensions: „Another day, jumping off the question of truth versus beauty in science, he mentioned an essay he had just finished on a related dichotomy, “Is Science Mostly Driven by Ideas or by Tools?” The essay, published in 2012, marked the 50th anniversary of “The Structure of Scientific Revolutions,” by the theoretical physicist and historian Thomas Kuhn. Dr. Kuhn’s favorite word, Dr. Dyson reckoned, was “paradigm,” a system of ideas that dominate a scientific era. “A scientific revolution is a discontinuous shift from one paradigm to another,” he added. “The shift happens suddenly because new ideas explode with a barrage of new insights and new questions that push old ideas into oblivion.” As a counterpoint, Dr. Dyson mentioned Peter Galison, a physicist and historian at Harvard, whose work focused more on experiments and instruments. Dr. Galison had published “a fatter but equally illuminating book” called “Image and Logic” — a history dominated by tools, whereas Kuhn’s was a history dominated by ideas.„Roughly speaking, Kuhn stands for beauty and Galison for truth,” Dr. Dyson said. „My answer is that we need them both.““

Hallo, alter ego

Alter Ego bezeichnet eine Person, die zwei verschiedene Leben lebt. So wie Mr. Hyde und Superman. 1981 erfindet sich der Fotoingenieur, Kunsthistoriker und Sammler Ulrich Tillmann sein alter Kunstego Klaus Peter Schnüttger-Webs als einen verträumten Weltverbesserer, dessen Interessen von Bauhaus bis Zen-Buddhismus, von Morphologie bis Entomologie reichen. Und nicht nur das, Tillmann gründet zusammen mit den Künstlerkollleginnen Bettina Gruber und Maria Vedder auch direkt das Klaus-Peter-Schnüttger-Webs-Museum dazu, ein fiktives, dem Werk des Fake-Universalgenies gewidmetes Anti-Museum. Ein begeh- und beschnupperbares Archiv, randvoll mit Fundstücken vom Flohmarkt wie mit höherwertigen Objekten aus der Frühzeit der Fotografie. Jetzt zu erkunden im Raum 18 des von Peter Zumthor architektonisch erneuerten, ganz unkölschen Museums Kolumba in Köln.