Nie gekannte Zärtlichkeit ist erwacht

Rocko Schamoni hat auf seinem jüngsten Meisterwerk „Musik für Jugendliche“ einen Song des italienischen Singer-Songwriters Lucio Battisti von 1973 wie soll man sagen: gecovert. Der Text liegt im Original schon so exakt schamonihaft daneben, dass er ihn nicht selbst erfinden musste. Ein Auszug:

Unser freies Lied

Neue Impressionen
neue Emotionen
nie gekannte Zärtlichkeit ist erwacht
wir hören nicht, was manche Leute sagen
wir sagen nichts, wenn manche Leute fragen
wir gehen einen anderen Weg – den Weg unsrer Liebe.

Hier in dieser Welt
die gefangen ist
singen wir ein freies Lied du und ich
eine wahre Liebe
fern von jeder Lüge
ein Symbol der Ehrlichkeit dein Gesicht.

Geliebtes Mädchen
du weißt nicht, wohin du gehen willst
doch wohin auch immer – ich werde mit dir gehen – wenn du es willst.

Sehr geehrte Leser

Arno Schmidt ist der, der (vor allem) das zementschwere, riesengroße, 1.000 Seiten starke Buch Zettels Traum geschrieben hat. Ganz kurz, aber nicht weniger groß sind seine fiktiven Briefe. Zum Beispiel der lakonisch-vernichtende an Klopstock, den Dichter der Empfindsamkeit und des Heldenepos Messias:

S.H. Herrn
F.G. Klopstock, Superintendent Schulpforta
bei Naumberg/Saale

Sehr geehrter Herr!
Anbei den Messias zurück.

Ihr Arno Schmidt

Analoger Link

Im tagebuchartigen „Tage und Zeilen 2“ von Peter Sloterdijk finden sich mehrere überschwängliche Hinweise auf Essays von Malcolm Gladwell, z.B.:  „Mittags wieder im Sea Palace, allein. Diesmal mit Malcolm Gladwells Essay Something Borrowed, ebenfalls aus dem Jahr 2004, erschienen im New Yorker. Das wird vermutlich auf lange Zeit das Klügste darstellen, was man zu den Themen Plagiat und geistiges Eigentum lesen kann, geschrieben von einem beiläufig Bestohlenen, der sich aus gegebenem Anlass klarmachte, was für eine Ehre es bedeuten kann, wenn ein paar Sätze aus der eigenen Feder im Kunstwerk eines anderen wiederkehren.“ Alle Gladwell-Essays – inkl. Something Borrowed – findet man im 2010 erschienenen Buch What the dog saw“ . Gern geschehen.

Angst vor nice

Zu Werner Büttners Prinzipien als Maler gehören geistige Überfallgeschwindigkeit, revolutionäre Schnöseligkeit und Polyfokalität („Bilder müssen mehrere Einflugschneisen haben“). Zu Werner Büttners Prinzipien als Hochschullehrer für Malerei gehört die Vernalisation, eine Methode, die er der Botanik entnommen und kunstpädagogisch fruchtbar gemacht hat: „Entwicklungsbeschleunigung bei Keimlingen durch Kälteschockbehandlung“. Das heißt: nicht zu nett sein zu Zöglingen.

Blessed be the BBC

Mission Statements können unerträglich phrasig sein. Sind sie aber nicht immer (gewesen). Das Ur-mission statement der British Broadcasting Corporation, formuliert vom Gründervater Lord Reith, ist ein kleines Meisterwerk der Komplexitätsreduktion. Die Kernzeile: „No one need ever be bored again.“

Die Noch-Nicht-Realität

Alles ruft nach Utopien. Endlich. Aber was genau ist das noch mal? Hier spricht der Erfinder der Utopie, der Staatsmann Thomas Morus aka Sir Thomas More, über die ideale Gesellschaft.

Herr Morus, Sie haben Utopia als Begriff erfunden. Was bedeutet er? Das ist ein Wortspiel mit den griechischen Bezeichnungen „Outopia“ (Οὐτοπεία) = Nicht-Ort und „Eutopia“ (Εὐτοπεία) = „glücklicher Ort“. Ich spiele gern.

Wie kamen Sie dazu, aus dem Begriff ein ganzes Werk zu machen? Mich beunruhigten die Verhältnisse, in denen wir leben. Deshalb hat „Utopia“ auch zwei Teile. In Teil 1 übe ich die nötige sachliche Kritik an den herrschenden Verhältnisse in meinem England. An sozialen Missständen, Konflikten, Kriegen, Kriminalität. In Teil 2 entwerfe ich ein fantastisches Gegenmodell als Idealzustand. Eine echte soziale Utopie. Ich lasse einen Weltreisenden seinen Freunden von einer fernen, glücklichen Insel erzählen. Das Ganze ist also teils Reisebericht und Inselmärchen, teils politische Mahnschrift. Es geht darum, was eine wirklich gute Gesellschaft ausmacht.

Worum genau geht in „Utopia“? Die Rahmenhandlung geht so: Ein Seemann behauptet eine Zeit lang bei den Utopiern gelebt zu haben. Er berichtet davon, wie die Gesellschaft da funktioniert und worauf sie basiert: auf Gleichheit, guter Arbeit, dem Streben nach Bildung. Ganz wichtig: Es gibt keinen Besitz bzw. aller Besitz ist gemeinschaftlich.  „Utopia“ ist, so berichtet der Seemann euphorisch, so etwas wie ein Wachtraum von einer Insel. Reiches, entlastetes, freizügiges Leben für alle. Kein Zwang, nirgends. Menschenfreundliches Zusammenleben ohne Verbrechen und Konflikte. Kultur von Kindesbeinen an. Das Gegenteil von dem, was sich real in weiten Teilen der Welt abspielt. 

Wie kann so ein Gesellschaftsmodell allen Ernstes möglich sein? Die Insel Utopia ist vor allem deshalb eine so menschenwürdige, weil ihre Bewohner weitestgehend von der Fron der Arbeit befreit sind. Sechs Stunden mäßiger Mühe reichen aus, um alle notwendigen Bedürfnisse zu befriedigen und auch genügend Vorrat für Annehmlichkeiten herzustellen. Die goldene Grundregel lautet: Mäßige Arbeit, nicht über sechs Stunden, und der Ertrag wird gleichmäßig verteilt. Dann beginnt das Leben jenseits der Arbeit, ein Leben der glücklichen Einheit der Familie im schön bereiteten Mehrfamilienhaus. Und damit nicht mal der Schein von Privateigentum aufkommt, gilt: Alle 10 Jahre werden die Häuser nach Losverfahren gewechselt. Im Zentrum der Insel, auf dem Forum befinden sich Speisehäuser (alles lecker und alles umsonst natürlich), Lehranstalten und Tempel. Hier dürfen übrigens alle möglichen Götter gepriesen und angebetet werden; oder gar keine. Utopia ist das Eldorado der Freiheit, auch der Glaubensfreiheit. Die Wirtschaftsverfassung Utopias hat vor allem ein Ziel: allen Bürgern möglichst viel Zeit für die Pflege geistiger Bedürfnisse frei zu machen.

Der Modus Vivendi ist das freie, friedliche Mit- und Nebeneinander… Genau. Animiert von einem Gemeingeist, der weder Privateigentum kennt noch individualistische Launen duldet. Eine Gesellschaft ohne Geld und Eigentum. Denn Eigentum schafft Herren und Knechte, schafft Konflikte unter den Herren, Bedürfnisse nach Macht und Obrigkeit, Kriege um Macht und Obrigkeit, alle Übel also.

Brüder und Schwestern koexistieren frei und friedlich in einer Inselkommune. Etwas „weltfremd“, oder? Wollen Sie mir damit sagen: Meine Utopie ist unrealistisch? Dann sage ich Ihnen: Ich denke und erzähle im Auftrag des Kommenden. Eine Utopie ist immer eine Noch-Nicht-Realität.

Wenn Sie das gesellschaftlich Gute an „Utopia“ in aller Kürze zusammenfassen müssten… Ein Minimum an Arbeit und Staat. Ein Maximum an Freude.

Haben Sie eine Lieblingspassage? Ja, den Schluss des zweiten Teils. Ich darf mich mal selbst zitieren: „Welche Last von Verdrießlichkeiten ist in diesem Staat abgeschüttelt, welche gewaltige Saat von Verbrechen mit der Wurzel ausgerottet, seit dort mit dem Gebrauch des Geldes zugleich die Geldgier beseitigt ist. Denn wer sieht nicht, dass Betrug, Diebstahl, Raub, Streit, Aufruhr, Zank, Mord, Verrat mit der Beseitigung des Geldes alle zusammen absterben müssten und dass überdies auch Furcht, Kummer, Sorgen, Plagen und Nachtwachen in demselben Augenblick wie das Geld verschwinden müssten?“ 

Was halten Sie davon, wenn man Ihr Werk „das goldene Büchlein von der besten Staatsverfassung“ nennt? Find ich gut und zutreffend.

Das Interview mit Thomas Morus ist fiktiv, die Antworten sind collagiert aus diesen Quellen: Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozialutopien; Kindlers Neues Literaturlexikon; Thomas Morus: Utopia. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk; und wikipedia.de.

Spezielle Gehirne für spezielle Probleme

Als Temple Grandin zwei Jahre alt ist, wird sie aufgrund eines „Hirnschadens“ zur Autistin gestempelt. Ihre Eltern ignorieren die defizitorientierte Sicht der Ärzte („Temple muss leider ins Pflegeheim“) und sehen vor allem Temples Stärken, zum Beispiel dass sie mit großer sensorischer Empfindsamkeit ausgestattet ist. Temple wird eine gute Schülerin, später studiert sie experimentelle Psychologie, dann Dozentin für Tierwissenschaf- ten. Ihr Doppel-Talent: Sie erfindet nicht nur sensationell schonende Viehaltungsmethoden (Grandin Livestock Systems), sondern ermöglicht auch neue Perspektiven auf den Autismus: Spezielle Gehirne sind nötig, um spezielle Probleme zu lösen.

Subversion für Fortgeschrittene

Der Kynismus ist eine Strömung der antiken Philosophie mit zwei Schwerpunkten: ethischer Skeptizismus und Bedürfnislosigkeit. Kyniker sind bissige Typen, subversive Individualisten. Diogenes (404 – 323 v.Chr.), den Erz-Kyniker, darf man sich ungefähr so vorstellen: Er inszeniert sein Leben als Kauzigkeits-Performance und öffentliches Ärgernis. Er nimmt grundsätzlich kein Bad und trägt Lumpen (wenn überhaupt was). Er ist ein Herumtreiber ohne festen Wohnsitz, nur manchmal richtet er sich in einer Holztonne ein. Die Leute geben ihm den Spottnamen „kynikos“, was „wie ein Hund“ bedeutet“. Er nimmt das als Ehrentitel, weil er um die herumschwänzelt, die ihm etwas geben; und jene anjault und auch schon mal beißt, die ihm nichts geben. Er begibt sich regelmäßig Ins Theater, aber immer erst, wenn die Vorstellung schon zu Ende ist. Als Alexander der Große ihn fragt: „Kann ich was für dich tun?“ antwortet er: „Geh mir aus der Sonne!“ Er schreitet mit einer Laterne in der Hand über den Markt von Athen, leuchtet den Menschen ins Gesicht, schüttelt den Kopf, trottet weiter, solange, bis einer ihn fragt, was er am hellichten Tage mit seiner Laterne wolle. „Ich suche einen Menschen!“ Er ist der Erste, der sich „Weltbürger“ nennt und sich dabei einen abgrinst. Auf einem Fest wirft ein Mann ihm, dem anarchistischen Hundephilosophen, einen Knochen zu. Diogenes pinkelt ihm dafür ungeniert ans Bein. 

Kyniker sind Künstler der Asozialität.