Bukowski ist 100

„Am College hatte ich mal aus Verlegenheit einen Kurs in Creative Writing belegt. Das waren Schwuchteln, Baby. Alberne, affektierte, lapprige Wundertiere. Sie schrieben Gedichte über allerliebste Spinnen und Blumen und Sterne und Familienpicknicks. Verglichen mit diesen Schlaffis waren die Girls im Kurs die reinsten Bierkutscher, aber ihre Schreibe war genauso mies. Der Dozent hockte im Schneidersitz auf einem gehäkelten Teppich, die Augen glasig vor Dummheit und Apathie, und sie versammelten sich um ihn und himmelten ihn an, die Weiber mit weiten weheneden langen Röcken und die Jünglinge mit ihren verkniffenen kleinen Ärschen, die vom letzten Besuch in der Sauna noch nachzitterten. Sie lasen sich ihre Verse vor und kicherten und nölten rum und tranken Tee und aßen Plätzchen dazu. Ja, lacht ihr nur. Ich kam erst gar nicht dazu. Ich saß alleine an der Wand, hohläugig und verkatert, und kämpfte mit dem Schlaf. „Bukowski“, fragte eines Tages der Dozent, „warum sagen Sie nie etwas? Was denken Sie?“ „Alles Stuss“, sagte ich. „Seit Monaten höre ich hier nichts als Stuss.“ Und das war das beste Gedicht des ganzen Semesters.“ (Aus:  Ein schlampiger Essay über das Schreiben und das verfluchte Leben, Maro Verlag)

Bukowski wird 100, es gibt Bohnen mit Knoblauch

„„Ich kam aus dem Krankenhaus und fing an, Gedichte zu schreiben. Keine Ahnung, warum. Hatte einen Magendurchbruch gehabt. Vielleicht hat es damit zu tun.“ Das war 1955. Für Leute, die einen ausgeprägten Sinn für Illusionen haben, ist es gewiss etwas anstrengend, mit Charles Bukowski umzugehen. Es ist auch nicht gerade das Leben eines kultivierten Mitteleuropäers, das sich in diesen Gedichten spiegelt. So wenig wie der uns geläufige „American way of life“. Aber man muss nicht jahrelang Nachtdienst bei der Post gemacht haben, man muss nicht Außenseiter sein, nicht Alkoholiker, ja nicht einmal Mann, um von der Ehrlichkeit, der Trauer und der Komik Bukowskis berührt zu werden. Seine Texte treffen und betreffen uns immer wieder direkt und unmittelbar. Er ist brutal, zersetzend, melancholisch und amüsant.“ Sagt Carl Weissner, der Bukowskis Gedichte ins Deutsche übersetzt hat, auch das hier:

Bohnen mit Knoblauch

Es ist schon wichtig, dass du
aufschreibst, wie dir zumute ist
es ist besser, als wenn du dich
rasierst oder dir Bohnen mit
Knoblauch machst. Es ist das Wenige,
was wir tun können, diese kleine
bisschen Mut, uns klar zu werden
über uns selbst, und natürlich
liegt auch Wahnsinn und Angst
in diesem Wissen,
dass ein Teil von dir
ein Uhrwerk ist, das einmal
stehenbleibt und nicht mehr
aufgezogen werden kann.
Doch jetzt
tickt es noch unter deinem Hemd,
und du rührst die Bohnen um
mit einem Löffel…
eine Geliebte tot, eine andere fort,
eine andere…
ah! so viele Geliebte wie Bohnen,
ja, zähl sie mal alle auf –
traurig, traurig,
wie deine Gefühle ver-
brutzeln auf dem Herd.
Schreib das auf.

Mentalgymnastische Übungen

„How to Think Like Shakespeare“ presents the early modern grammar school as a pedagogical environment characterized by active, rather than passive, learning. Newstok invokes one of the period’s key instructional texts, Richard Rainolde’s The Foundacion of Rhetorike (1563), which derived from the ancient Greek rhetorician Aphthonius’s Progymnasmata. The etymology of this word — from the Greek for “preparatory exercises” — gives the sense of its instructional method, what Newstok calls “a regimen of mental gymnastics.” In his account, an early modern education based on these sorts of manuals gave students “practice in curiosity, intellectual agility, the determination to analyze, commitment to resourceful communication, historically and culturally situated reflectiveness, the confidence to embrace complexity.” To some degree, Newstok paints a picture of a culture that allowed learning for learning’s sake; yet the goal of these kinds of exercises was the development of linguistic skill that would, ultimately, be useful in any future vocation. “This was verbal training for careers,” Newstok tells us, “whether in the church, the court, or the market.” Via LARB

Schmeichler, Schwätzer, Freund des Pöbels

Vom griechischen Denker, Botaniker und Aristoteles-Schüler Theophrast ist nur ein Werk vollständig überliefert, die „Charaktere“. In prägnanten Skizzen typologisiert er dreißig männliche Charaktere, darunter den Gerüchtemacher, den Schmeichler, den Schwafler, den Schwätzer, den Knickrigen, den Oligarchen und den unzeitgemäßen Mann. Die Schrift war in der Antike so beliebt, daß man sie als das „Goldene Büchlein“ bezeichnete. Auch interessant für ambitionierte Storyteller von heute. theparisreview.org

Cancel Culture, hä?

Cancel Culture zerstört den Liberalismus. Nee, Cancel Culture gibt es gar nicht. Oh doch, sie hat schon immer existiert; haben nicht schon Brutus und Cassius Julius Cäsar einfach gecancelt? Ja, sie existiert, aber es sind nur ein paar reiche Promis, die sich darüber beschweren, dass die Leute ihnen endlich auf Twitter antworten können. Nein, so was existiert nicht, außer wenn es gut ist und die Gecancelten es verdient haben. Ein kompliziertes Phänomen also, das hier elegant auf zehn pauschale Behauptungen zusammendampft wurde. Via NYT

Einschränkungen als Kreativitätstreiber

In Zeiten der multiplen Restriktionen lohnt sich Lars von Triers „The Five Obstructions“ ganz besonders. Kurz zum Hintergrund: 1967 hatte Jørgen Leth den Kurzfilm Der perfekte Mensch produziert – einen Essay über die Konstruktion des modernen Funktions- und Konsummenschen. Ein elegantes, zwölfminütiges Meisterwerk. von Trier verehrt diesen Film und seinen Macher. Er überredet Leth nun, fünf Remakes davon zu produzieren – nach Regeln, die er, von Trier, mit perfider Freude am Dogma aufstellt. Jede dieser Regeln beinhaltet konzeptionelle und formale Erschwernisse, die Leth kreativ überwinden muss. Mal muss Leth den Film in Kuba neu drehen, ohne Set und mit der Auflage, dass keine Aufnahme länger als zwölf Bilder dauern darf; mal muss er den Film am schlimmsten Ort der Welt (Bombay) neu drehen, darf diesen Ort aber nicht auf der Leinwand zeigen; mal muss er sein Original zum Zeichentrickfilm machen (Leth hasst Zeichentrickfilme). Ist ein Film fertig, treffen sich die beiden Regisseure, schauen sich das Werk bei Wodka und Kaviarschnittchen gemeinsam an – und von Trier bewertet die Remakeaufgabe als bestanden; oder nicht bestanden. Glasklar wird: Die auferlegten Hemmnisse wirken auf Leth gar nicht einengend, im Gegenteil: Sie feuern seine Imagination und handwerkliche Brillanz an bzw. setzen sie frei. Es entstehen Remakes als komplett originelle, neue Werke. Folgen wir von Trier und Leth (zumindest hierin): Reagieren wir auch auf die krassesten Zumutungen interessiert, wach und mit hintervotziger Gelassenheit.

Arthur spielt mit seinem Leben

Via The Paris Review: „Arthur Cravan’s real name was Fabian Avenarius Lloyd; he adopted myriad pseudonyms and aliases during his short life. He was born in Switzerland, in 1887, to Irish and British parents with whom he had a tumultuous relationship, though he was immensely proud that his aunt Constance was Oscar Wilde’s wife. In his early teens, Cravan came to regard the familial link to the world’s most disreputable genius as proof that he was destined for a life of fabulous infamy.“

Aus der Reihe „Phantastische Krankheiten“: Newyorkitis

Via laphamsquarterly: „New York was a place of substantial flux and chaos when Newyorkitis was first published. Between 1870 and 1900 over twelve million immigrants arrived in the United States, and more than 70 percent of them entered the country through Manhattan, which became known as “the Golden Door.” This continuous stream of people meant more noise, more traffic jams, more pollution, and more sanitation problems. At the same time innovations and expansions in steamship and railroad infrastructure increased trade in the region; almost 70 percent of all U.S. imports entered via Manhattan by 1884. Technological inventions such as electric lights and wireless radio changed the pace of society and the length of time people could spend working. New York became known as the capital of commerce, opportunity, modernity—but also the epitome of the fast life in a way that both excited and frightened people, whether they lived in the city or watched it from afar. And it was this buzz, this extreme growth and new style of living, that invited questioning and analysis; it provided an opportunity for ideas like those in Girdner’s Newyorkitis to catch on and spread like a disease.“

Ins Blaue bauen

Getrieben von Verzweiflung über die Barbarei des ersten Weltkriegs und befeuert von den alternativen Lebensentwür- fen der Reformer und Anarchisten, schreibt Ernst Bloch 1918 den „Geist der Utopie“. Ein philosophisches Manifest gegen die Leere, Ungläubigkeit und Hohlheit der Zeit. Für ein neues, reiches, volles (auch gläubiges) Leben.  Mit Utopie ist hier ausnahmsweise nicht die detailliert ausgeschmückte Ausmalung eines Idealstaats gemeint, sondern eine Idee: etwas Geistiges, Metaphysisches, das allen Indivi- duen innewohnt und jetzt endlich aktiviert werden muss. „Das Rechte zu finden, um dessetwillen es sich zu leben ziemt. (…) Dazu bauen wir ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, Wirkliche (…).“ Ernst Bloch beschreibt den Menschen als ein radikal zur Utopie, zum guten Leben und Zusammenleben begabtes Wesen. Im Prinzip geht es ihm um: Hoffnung. 

Beauty and Truth!

Via NYT: Lunch With Freeman Dyson, in 196,883 Dimensions: „Another day, jumping off the question of truth versus beauty in science, he mentioned an essay he had just finished on a related dichotomy, “Is Science Mostly Driven by Ideas or by Tools?” The essay, published in 2012, marked the 50th anniversary of “The Structure of Scientific Revolutions,” by the theoretical physicist and historian Thomas Kuhn. Dr. Kuhn’s favorite word, Dr. Dyson reckoned, was “paradigm,” a system of ideas that dominate a scientific era. “A scientific revolution is a discontinuous shift from one paradigm to another,” he added. “The shift happens suddenly because new ideas explode with a barrage of new insights and new questions that push old ideas into oblivion.” As a counterpoint, Dr. Dyson mentioned Peter Galison, a physicist and historian at Harvard, whose work focused more on experiments and instruments. Dr. Galison had published “a fatter but equally illuminating book” called “Image and Logic” — a history dominated by tools, whereas Kuhn’s was a history dominated by ideas.„Roughly speaking, Kuhn stands for beauty and Galison for truth,” Dr. Dyson said. „My answer is that we need them both.““